In den späten 50er Jahren entwickelten einige Avantgarde-Musiker
in New York, aber auch in anderen Zentren der USA neue Spielkonzepte,
die sowohl improvisatorische als auch kompositorische Bereiche
einschlossen. Der neue Stil der 60er Jahre wurde nach dem
Plattentitel einer LP von Ornette Coleman "Free Jazz" getauft.
Der Terminus selbst ist nicht unproblematisch, denn die durch
ihn implizierte Freiheit in bezug auf traditionelle Spielhaltungen
des Jazz besitzt diese Musik nur bedingt. Zwar gibt es Momente
"aleatorischer" Improvisation, doch die ursprünglichen Ideen des
Free Jazz Cecil Taylors oder Ornette Colemans orientierten sich
sehr wohl noch an den Traditionen des Jazz. Taylor kannte die
usik von Ellington, und Ornette Colemans Spiel wurde beispielsweise
von einem Musiker wie John Lewis, der einst als Begleiter Charlie
Parkers fungiert hatte, als eine Erweiterung des Parkerschen
Musikideals aufgefaßt. Der frühe Free Jazz orientiert sich auf
verschiedenen Ebenen an melodischen, harmonischen und rhythmischen
Grundmustern der Jazztradition. Die Besetzungen entsprechen oft
noch der typischen Bebop-Instrumentation. Coleman verzichtet
meist auf das Klavier, um sich von dessen harmonischer Dominanz
zu lösen. Bei Taylor und anderen werden Baß und Schlagzeug zu
gleichberechtigt improvisierenden Dialogpartnern. Das Stimmideal
des neuen Jazz ist freier als beispielsweise das des vorweggegangenen
Cool Jazz. Klangideale, die bereits die Hot-Phrasierung der 20er
Jahre bestimmten, werden weiterentwickelt und auch Geräusche in
den musikalischen Ablauf einbezogen. Die Rhythmik bei Ornette
Coleman ist meist noch konventionell. Dem Bassisten kommt die
Aufgabe des Zeitgebers zu, der mit seinem walking bass das
Fundament setzt, an dem sich die anderen Musiker orientieren.
In anderen Phasen des Free Jazz oder bei anderen Musikern
scheinen ebenso rhythmisch traditionelle Vorstellungen durch,
auch wenn bei ihnen die regelmäßige Taktvorgabe vernachlässigt
wird. Das Moment des swing ist bei Coleman weiterhin vorhanden,
wird zum Teil aber auch - beispielsweise in der Musik Cecil
Taylors - durch das energy play abgelöst, ein dynamisches Konzept
von Ton-, Klang- und Clustersalven, die einen enorm antreibenden
Impetus besitzen. Harmonische Prozesse finden durchaus noch im
traditionellen Rahmen statt, können aber stellenweise, manchmal
auch über die gesamte Realisation eines Stücks, durch harmonische
Bindungslosigkeit ersetzt werden. In einzelnen Beispielen des
Free Jazz lassen sich tonale Zentren festmachen, die eine Art
Thema-Charakter besitzen, aber auch regelrechte changes, deren
Interpretation in der Improvisation allerdings sehr frei geschehen
kann. Schließlich lassen sich Traditionsbezüge auch im direkten
musikalischen Repertoire konstatieren - beispielsweise in
Rückgriffen des Saxophonisten Albert Ayler auf
Marschkapellen-Traditionen oder in der Musik Sun Ras, in der
ab und zu Bigband-Klischees der Swing-Ära zitiert werden.
Auch Komposition ist dem Free Jazz durchaus nicht fremd. Cecil Taylor beispielsweise fertigt blockhafte, sehr komplexe Kompositionen, in deren Realisationen man den Unterschied zwischen Improvisations- und oral vermittelten Kompositionspartien oft nicht mehr unterscheiden kann. Ornette Colemans Kompositionen orientieren sich vielfach an der konventionellen Bebop-Praxis der Themenrahmung im Unisono der Frontinstrumente - wenn auch seine Ensemblepassagen meist wie ein etwas schiefes Unisono klingen, in dem jedem der Melodieträger ein leicht verändertes rhythmisches Konzept des Themas vorschwebt. Neben dem melodie-orientierten Free Jazz Ornette Colemans und der kommunikations-orientierten Musik Cecil Taylors steht John Coltrane als einer der einflußreichsten Vertreter des neuen Jazz. Coltranes Improvisationen basieren musikalisch auf dem, was der Saxophonist mit dem Miles-Davis-Quintet entwickelt hatte: auf modal angelegten Improvisationsstrukturen, die Coltrane genauso wie konventionelle Balladen oder andere changes-Kompositionen mit seinen Klangflächen, den sogenannten "sheets of sound" füllt. Dies sind unregel-mäßige Tongruppen, in denen der Saxophonist Akkorde aufbricht, so daß er aus seinem Instrument einen akkordischen Klangteppich auszubreiten scheint. In seinen frühen Bands entwickelte Coltrane diese Technik zu einer Meisterschaft, die erklärt, warum er bereits seit den frühen 60er Jahren von - durchaus nicht nur jüngeren - Kollegen als Meister und Erneuerer seines Instruments betrachtet wurde. Zu den Coltrane verbundenen Musikern der 60er Jahre gehören beispielsweise die Saxophonisten Archie Shepp (geb. 1937) und Pharoah Sanders (geb. 1940).
Insgesamt reicht die musikalische Bandbreite des Free Jazz von relativ durchkonzipierten Spielstrukturen, in welche Passagen für freie Improvisation eng eingepaßt sind, bis zu völlig frei improvisierten Kommunikationsstrukturen, deren musikalischer Verlauf sich einzig aus dem Augenblick heraus ergibt, ohne eine vorherige Absprache der Beteiligten. Harmonische Grundgerüste, tonale Zentren oder eine bewußte Vermeidung jeden tonalen Anklangs, rhythmisch-metrisch konventionell swingende oder energiegeladene dynamische Prozesse stehen in verschiedenen Beispielen dieser Musik nebeneinander als Stilcharakteristika einiger der bedeutendsten Vertreter des Free Jazz. Neben den musikalischen Parametern änderte sich auch das Verhältnis der Musiker zu den äußeren Produktionsbedingungen ihrer Musik. Wenn Stücke nicht mehr wenige Minuten, sondern teilweise eine halbe Stunde oder mehr einnehmen, setzt dies nicht nur eine Änderung der Hörgewohnheiten voraus, sondern darüber hinaus eine Änderung der Veranstaltungskonzeption. Der Free Jazz war für die konventionelle Clubszene nur noch bedingt geeignet, da er die Konzentration nicht nur von den Musikern, sondern auch vom Publikum verlangte. Einzelne Musiker verbanden die musikalische Interaktion mit theatralischen Aktionen, die das Konzert zu einer Art Bühnenspektakel werden ließen (Sun Ra, Art Ensemble of Chicago). Immer mehr Musiker gingen in den 60er Jahren dazu über, die geschäftliche Seite ihres Berufs selbst in die Hand zu nehmen, in Musikerinitiativen neue Auftrittsmöglichkeiten zu schaffen, eigene Platteneinspielungen zu organisieren und die fertigen Produkte selbst zu vertreiben. Zu den wichtigsten Musikerinitiativen gehören die AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians) in Chicago, die BAG (Black Artists Group) in St. Louis oder die Jazz Composers' Guild in New York. Diese Initiativen entwickelten eigene musikalische und ästhetische Konzepte und beeinflußten hierdurch viele der ihnen assoziierten Musiker, beispielsweise das Art Ensemble of Chicago, Lester Bowie (geb. 1941), Anthony Braxton (geb. 1945), Oliver Lake (geb. 1942), Julius Hemphill (1940-1995), Paul Bley (geb. 1932), Carla Bley (geb. 1938), Roswell Rudd (geb. 1935), John Tchicai (geb. 1936) u.a.
Der Free Jazz wurde Anfang der 70er Jahre mit dem Aufkommen der Fusion-Musik, des Rockjazz und Jazzrock aus dem Rampenlicht der Jazzentwicklung verdrängt. Seine Musiker blieben trotz der relativen kommerziellen Erfolglosigkeit der Musik innovativ aktiv. Aus ihren Kreisen rekrutieren sich viele derjenigen Musiker, die den Jazz der 80er Jahre mitbestimmten.
(Wolfram Knauer Leiter des Jazzinstituts Darmstadt)