Der Bebop beinhaltete ein Element des Experimentellen. Die Musiker setzten sich auch außerhalb der Jam Sessions zusammen und diskutierten musikalische Probleme. Einige experimentelle Orchester arbeiteten in jenen Jahren mit erweiterten Formmodellen, die über die im Jazz übliche Chorusreihung hinausgehen. An vorderster Front dieser Experimente steht der Pianist und Orchesterleiter Stan Kenton (1911-1979), der seine Musik als "progressive jazz" beschrieb. In den vergleichbaren Bands von Boyd Raeburn (1913-1966) und Claude Thornhill (1909-1965) saßen bekannte Bebop- und spätere Cool-Jazz-Musiker. Für Thornhill arrangierten unter anderem Gil Evans (1912-1988) und Gerry Mulligan (geb. 1927). Evans und Mulligan sowie eine Gruppe anderer junger Musiker trafen sich Ende der 40er Jahre regelmäßig in Evans' New Yorker Appartement. Sie wollten das Klangideal und die harmonische Klangfarbe des Thornhill-Orchesters mit für den Jazz unüblichen Instrumentierungen auf die kleinstmögliche Besetzung transferieren. Das Ergebnis war das Miles Davis Nonet (Capitol Band). Die Aufnahmen dieses Ensembles von 1949 und 1950 wurden später unter dem Titel "The Birth of the Cool" veröffentlicht. Sie zählen zu den Anfängen einer Musikrichtung, die in den 50er Jahren als "Alternative" zum Bebop rechnete: dem Cool Jazz.

Viele der zukunftsweisenden Stilrichtungen der 50er und 60er Jahre haben ihren Ursprung in der Beschäftigung einzelner Musiker mit dem Moment der Form im Jazz. Komponisten und Arrangeure zeigten sich mit der formalen Simplizität des Bebop unzufrieden. Der Pianist und Komponist John Lewis, Pianist des Modern Jazz Quartet und als Pianist wie als Arrangeur maßgeblich an den Aufnahmen der Capitol Band beteiligt, drückte dies pointiert aus: "I think the audience for jazz can be widened if we strengthen our work with structure. If there is more of a reason for what's going on, there'll be more overall sense and, therefore, more interest for the listener" (Nat Hentoff: Counterpoint, in: Down Beat, 30. Dezember 1953). Als hervorstechendes Charakteristikum des Cool Jazz ist die stärkere Strukturierung von Komposition und Improvisation zu sehen, die teilweise durch eine Erweiterung der Chorusstrukturen erreicht werden sollte, durch mehrteilige Kompositionen, aber auch durch Anleihen bei kompositorischen Techniken aus der europäischen Tradition.

Der Terminus "cool" bezieht sich auf eine Grundhaltung des Musizierens. Im Gegensatz zum Bebop ist das Spielideal des Cool Jazz eher introvertiert. Komposition wie Improvisation gehorchen einem intellektuellen Kunstverständnis. Die meisten Cool-Musiker hatten Universitäts- und Konservatoriums-Studien hinter sich. Sie sahen ihre Musik in erster Linie als Kunst-, d.h. als Hörmusik. Sie drängten den funktionellen Aspekt dieser Musik noch weiter zurück als im Bebop. Begriffe wie "understatement", "relaxed", Lyrik, Verhaltenheit charakterisieren das Spielideal des Cool Jazz. "Cool" ist dabei natürlich auch ein terminologischer Gegensatz zum "hot" früherer Stile.

Cool-Jazz-Musiker verwenden ihr "cool"-Spielideal auf allen Ebenen. Trompeter und Saxophonisten spielen mit möglichst wenig Vibrato, der Ton wirkt "reiner" als in Jazzstilen, in denen sich die Intonation an vokalen Stimmidealen orientiert. Die Besetzung spiegelt oft jene der Miles Davis' Capitol Band wider, aber auch den "progressive jazz" Stan Kentons. Bislang im Jazz unübliche Instrumente finden Eingang sowohl in die Orchestration komponierter Partien als auch in die Sologestaltung: Neben den konventionellen Jazzinstrumenten sind auch Oboen, Fagotte, Flügelhörner, Hörner, Tuben, Harfen u.ä. zu hören. Die Arrangements reichen von mehr oder weniger verschleierten Chorusreihungen bis hin zu langen, mehrteiligen Kompositionen, welche sich teilweise an Formmodellen aus der europäischen Musikgeschichte orientieren - beispielweise an Fuge, Konzert, Sonate. Der Cool Jazz wird in der Jazzgeschichtsschreibung gern als "weiße" Musik beschrieben, obwohl "The Birth of the Cool" von Miles Davis, einem schwarzen Musiker eingespielt wurde. Tatsächlich aber rechtfertigen besonders die Ausformungen des Cool Jazz von der amerikanischen Westküste (West Coast Jazz) die Einschätzung, daß diese Musik in erster Linie von weißen Musikern gepflegt wurde.

War der Bebop ein solistisch ausgerichteter Stil, so spielt im Cool Jazz das Ensemblespiel eine wichtige Rolle. Soli stehen nach wie vor im Mittelpunkt der Realisationen, werden aber eingebettet in komplexe Arrangements, die mit Sound und Klangabstufungen experimentieren. Die Improvisationstechniken des Cool Jazz entsprechen denen des Bebop. Einzelne Musiker wie Lennie Tristano (1919-1978) oder John Lewis entwickelten zudem eine Technik "motivischer Improvisation", die an die motivische Arbeit europäischer Konzertmusik erinnert, allerdings in der Tradition der Jazzimprovisation "spontan" erfunden, also nicht im kompositorischen Sinne durchgeplant ist. Auch Kollektivimprovisation findet sich im Cool Jazz wieder - beispielsweise im Dave Brubeck Quartet, im Modern Jazz Quartet oder im Jimmy Giuffre Trio, allerdings nicht wie im Jazz der 20er Jahre als eine Weiterentwicklung der Variantenheterophonie, sondern in Anlehung an die Tradition europäischer Kontrapunktik. Die Vorliebe für barocke Topoi entspringt der Konzentration vieler Cool-Jazz-Musiker - beispielsweise Lennie Tristano oder Lee Konitz (geb. 1927) - auf lineare Improvisation, ein beinahe kontrapunktisches Zusammenfügen melodischer Linien. Solch ein Spielideal bestimmt selbst Besetzungsentscheidungen beispielsweise des Gerry Mulligan Quartetts, das auf ein harmonisches Instrument wie das Klavier verzichtet und mit Baritonsaxophon, Trompete, Kontrabaß und Schlagzeug auf die Ausbildung miteinander korrespondierender Einzelstimmen abzielt

(Wolfram Knauer Leiter des Jazzinstituts Darmstadt)

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