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Frühe Stilarten (New-Orleans-Stil bis Swing)
Die Geschichtschreibung
einer improvisierten Musik ist auf die Dokumentation musikalischer
Ereignisse angewiesen, will sie sich nicht in Legenden erschöpfen.
Die Jazzgeschichtsschreibung ist ohne das Medium der Schallplatte
nicht denkbar. Die Legenden um den Trompeter Buddy Bolden (1877-1931) beispielsweise
beleuchten die Sozialgeschichte des frühen Jazz und die Stellung
eines schwarzen Musikers zu Beginn dieses Jahrhunderts. Seine Musik
selbst allerdings ist für den Historiker verloren, da er in eine
Nervenanstalt eingewiesen wurde, bevor Schallplattenaufnahmen allgemein
üblich waren (Marquis 1978). Das historische Wissen um die Marschmusik,
die Salon- und Ragtimeorchester aus dem New Orleans zum Anfang dieses
Jahrhunderts nährt sich einzig aus Notenmaterial und niedergeschriebenen
Arrangements sowie Klangbeispielen aus späteren Jahren. Eine
Marschkapellen-Tradition lebt noch heute am Mississippi-Delta fort,
und viele der Hymnen, Stomps und Rags, die nach der Jahrhundertwende
gespielt wurden, sind nach wie vor mit modernen Anklängen bei
Umzügen zu hören.
Die Stilbezeichnungen
"New Orleans Jazz" oder "Dixieland" sind auswechselbare Termini. In
der Literatur werden sie meist durch die Rassenzugehörigkeit
der betreffenden Musiker unterschieden: New-Orleans-Jazz ist nach
dieser Definition eine schwarze, Dixieland eine weiße Musik.
Durch das Revival des frühen Jazz in den 1940er Jahren wird eine
solche Unterscheidung noch verstärkt: New-Orleans-Kapellen orientieren
sich nun an den Aufnahmen von King Oliver's Creole Jazz Band, Louis Armstrong's Hot Five und Hot
Seven oder Jelly Roll
Morton's Red Hot Peppers. Dixielandbands eifern weißen Musikern
wie der Gruppe um den Gitarristen Eddie Condon (1905-1973) nach. Tatsächlich
aber können selbst Revival-Bands der 1940er und 1950er Jahre
nicht ausschließlich einem Stillager zugeordnet werden: Die
Band des Posaunisten Turk
Murphy (1915-1987) beispielsweise spielte sowohl kommerziellen
Dixieland-Jazz als auch Transkriptionen originärer Oliver- oder
Morton-Arrangements.
Ein weiterer Stilbegriff
für die 1920er Jahre bringt noch mehr Verwirrung: Die Musik einiger
junger weißer Chicagoer Musiker jener Zeit, die dem Spielideal
Louis Armstrongs nacheiferten, wird allgemein als "Chicago-Stil" bezeichnet.
New Yorker Musiker um den Trompeter Red Nichols (1905-1965) und den Posaunisten
Miff Mole (1898-1961) wiederum
orientieren sich stark an der Spielhaltung weißer Musiker wie
Bix Beiderbecke (1903-1931) und Frankie Trumbauer (1901-1956). Ordnet
man die genannten Stilkategorien einzelnen Musikern oder Bands zu,
so lassen sich zwar tatsächlich Stilunterschiede festmachen,
die allerdings meist mehr über den Personal- oder Gruppenstil
der betreffenden Beispiele aussagen als über eine individuelle
Stilgattung im Bereich des Jazz.
Der Jazz entwickelte
sich in New Orleans aus einer langen Tradition afro-amerikanischen
Musizierens heraus. Neben Überlieferungen afrikanischer Musik
ist das lebendige musikalische Leben im New Orleans des 19. Jahrhunderts
für die Entstehung des Jazz verantwortlich. New Orleans besaß
das erste Opernhaus der Vereinigten Staaten, Sinfonieorchester und
Chorvereine. Die buntgemischte ethnische Bevölkerung der Hafenstadt
brachte ihre nationalen Folkloretraditionen mit nach Amerika: irische
jigs und schottische reels, deutsche Volkslieder,
französische Tanzformen. Daneben gab es in New Orleans einen
großen kreolischen Bevölkerungsanteil. Viele der schwarzen
Kreolen, die als gens du coleur bezeichnet wurden, stammten aus den
französischen Kolonien der Karibik und fühlten sich nach
ihrer Ankunft in New Orleans auf einem höheren sozialen Niveau
als die dortigen schwarzen Sklaven (vgl. Arnold R. Hirsch & Joseph
Logsdon: Creole New Orleans. Race and Americanization, Baton Rouge
1992). Auch sie brachten eine neue musikalische Facette in die Musik
der Stadt ein: Von ihnen stammt der latin tinge, jener vor
allem im Rhythmischen durchscheinende karibische Einfluß, der
erstmals in den Kompositionen Louis Moreau Gottschalks zu hören
war und beispielsweise in den Aufnahmen Jelly Roll Mortons immer wieder im
Vordergrund steht (vgl. Roberts 1979). Schließlich war es den
schwarzen Sklaven schon vor der amerikanischen Emanzipationserklärung
erlaubt gewesen, auf dem Congo Square in New Orleans rituelle Tänze
und Musik aufzuführen (Kmen 1966). All diese musikalischen Traditionen
sind als wichtige Einflußmomente auf die Entstehung des Jazz
zu werten. Beispielhaft demonstriert der Pianist und Komponist Jelly Roll
Morton (1890-1941) in einer Aufnahme der Library of Congress von
1938 anschaulich die Transformation des "Tiger Rag" aus verschiedenen
europäischen Tanzformen des 19. Jahrhunderts (Quadrille, Walzer
usw.) durch die Überlagerung mit Ragtime-Synkopen, off-beat-Akzenten,
perkussiv eingesetzten Clustern und improvisatorischen Momenten in
den Jazz.
Der New-Orleans-
bzw. Dixieland-Jazz zeichnet sich durch eine kleine (Combo-)Besetzung
mit ein oder zwei Trompeten, Posaune, Klarinette, Klavier, Banjo,
Baß oder Tuba (die vor den Jahren verstärkter Musik besser
zu hören war) und Schlagzeug aus. Der Rhythmusgruppe kommt die
Funktion einer gleichmäßigen Basis zu, die sowohl die harmonische
als auch die rhythmische Grundlage abgibt, auf die sich die Stimmen
der Melodiegruppe beziehen. Als rhythmisches Grundmuster dienen two
beat und four beat. Two Beat ist hierbei ein aus dem Marsch
abgeleitetes Rhythmusgefühl, ähnlich der Betonung auf dem
europäischen 4/4-Takt, also auf erstem und drittem Taktschlag.
Diese Schwerzeiten werden in der Regel von Baßtrommel, Tuba
bzw. Kontrabaß, Banjo und Klavier betont. Die Aufgabe der Rhythmusgruppe
ist die einer metrischen Unterstützung der Melodiegruppe sowie
die des time keeping, des Tempo-Haltens. In der Melodiegruppe ist
als hauptsächliches Charakteristikum die "Kollektivimprovisation"
zu nennen, die im frühen Jazz allerdings treffender mit dem Begriff
"Variantenheterophonie"
zu umschreiben wäre. Den einzelnen Instrumenten der Melodiegruppe
sind dabei bestimmte Aufgaben zugewiesen (vgl. Abbildung 2). Die Trompete
hat die lead-Position, aus welcher heraus sie die Melodie trägt.
Klarinette und Posaune erfüllen für den lead der
Trompete eine Art Antwortfunktion. Die Posaune wird dabei mit einer
Fundamentstimme betraut, die Klarinette umspielt den Trompetenpart
(Umspielung = embellishment). Das Spielideal dieser Instrumente
spiegelt verschiedene schwarz-amerikanische Traditionen wider und
ist als Resultat einer oral traditerten Musik zu sehen. Momente wie
dirty notes – also unsauber intonierte Töne –,
wa-wa- und growl-Effekte der Trompeten oder Posaunen,
vielfältige Blechbläser-Dämpfer usw. scheinen das Stimmideal
der menschlichen Stimme nachahmen zu wollen. In vielen frühen
Aufnahmen des Dixieland-Jazz finden sich Effekte wie instrumentale
Tierstimmenimitationen (Original Dixieland Jass Band: "Barnyard
Blues", 1917), die der Popularität der neuen Musik innerhalb
des kommerziellen Musikmarktes nur dienlich waren. Weitere charakteristische
Spieltechniken sind das tailgate-Spiel der Zugposaune (glissandoartige
Läufe als Füllparts zwischen Instrumentalphrasen) sowie
das slapping des Kontrabasses (d.h. ein Anreißen der jeweiligen
Saite und gleichzeitiges Aufschlagen aufs Griffbrett, durch das ein
klatschendes Geräusch entsteht; diese Technik wurde u.a. benutzt,
um den eher leisen Baßklang zu verstärken, so daß
sowohl die harmonische als auch die rhythmische Funktion dieses Instruments
deutlich hörbar wurde). Blue notes, jene für afro-amerikanische
Musik typischen mikrotonal unklaren Intervalle der dritten und siebten
Stufe, werden von den Bläsern durch "undeutliche" Intervallphrasierungen
betont. Der Instrumentalklang ist nicht in europäischem Sinne
"schön", sondern durch solche "unreine" Phrasierung, aber auch
durch die off-pitchness (geringfügige Tonhöhenabweichungen)
eingetrübt. Ansatz, dirty notes, off-pitchness, ein mehr oder
weniger starkes Vibrato und Techniken wie growl, tailgate, slap, Glissando,
Flatterzunge usw. werden terminologisch unter dem Begriff Hot-Intonation
zusammengefaßt. Die Hot-Intonation ist das gemeinsame Spielideal
dieser frühen Jazzstile. Als klassisches Beispiel für den
New-Orleans-Jazz gilt die Band des Kornettisten Joseph "King" Oliver (1885-1938).
Oliver verließ seine Heimatstadt bereits 1918; die Einspielungen
seiner Creole Jazz Band aus Chicago datieren aus dem Jahre 1923. In
ihnen hat der Trompeter Louis Armstrong sein Plattendebut.
Notenbeispiel 1 zeigt die Niederschrift einer typischen Kollektivimprovisation
im Themenchorus zu Olivers "Dippermouth Blues". Die unterschiedliche
Funktionszuweisung der Instrumente ist bereits aus der Transkription
zu erkennen. Das Ineinandergreifen der einzelnen Stimmen, rhythmische
Abweichungen sowie intonationsspezifische Tonhöhenschwankungen
sind höchstens annähernd notierbar, konkret nur anhand der
Aufnahme nachzuvollziehen.
(Wolfram Knauer Leiter des Jazzinstituts Darmstadt)
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